"Ein paar Jahresringe habt ihr ja gemeinsam," so antwortete eine Freundin auf mein neues Möbelstück.
Genauer gesagt schrieb sie von den Templiner Jahresringen, denn der Baum stand auf dem Grundstück der Gemeinde, in der ich meinen Dienst als Pastorin begann. Damals war der Baum eine große Tanne. Für das Grundstück irgendwann zu groß, für den Weihnachtsmarkt gerade recht. An dem Tag, als die Mitarbeiter der Stadt kamen, um ihn zu fällen, war ich wach und spontan genug, um mir eine Scheibe davon abschneiden zu lassen. Ja, ich ergriff die Gelegenheit beim Schopf, wie es so schön sprichwörtlich heißt, und bat die Arbeiter mir doch eine Baumscheibe von dem Baum abzuschneiden. Gefragt – getan. Ich weiß nicht mehr genau, wann es in meinem Dienst in Templin war. Damals dachte ich, so eine Holzscheibe kann ich immer mal gebrauchen. Ob ich eine dekorative Mitte für einen Frauenabend bräuchte, ein Anschauungsstück für eine Kinderstunde, oder mir sonst was dafür einfallen würde. Ideen und Kreativität hatte ich genug mir was vorzustellen. Hier und da kam sie auch zum Einsatz. Ich erinnere mich noch gerne an einen Silvesterabend, als sie die Mitte des Raumes zierte und wir in einem großen Kreis als Gemeinde saßen, miteinander Andacht hielten, sangen, beteten, sogar tanzten an diesem Abend. Wir feierten den Übergang. Den Übergang in ein neues Jahr.
Mit der Zeit trocknete das Holz, riss und wurde von einem Gemeindemitglied in Templin für mich geschliffen. Und die Baumscheibe zog mit mir von Ort zu Ort. Von Templin nach Hamburg, von Hamburg nach Wüstenjerichow, nach Schönebeck. Hier lag sie nun mehr als zwei Jahre in unserem Eßzimmer auf dem Boden. Kerzenständer drauf und gut. Platzhalter. Lückenfüller. Manchmal unbeachtet. Auf jeden Fall ungenutzt, ohne kreative Gedanken, gar einen Einsatz. Und in Corona-Zeiten war an Gruppenarbeit ja eher weniger zu denken.
Wie aus dem Winterschlaf erwacht, so kam mir im Februar eine Idee. Ende des Jahres hatte ich mir einen Sessel gegönnt. Rot. Inspirierend. Schon jetzt ein Ort guter Gedanken und stiller Momente. Ein Ruheplatz wie ich ihn mag und brauche. Nur, die passende Ablage für Buch, Brille und Teetasse fehlten. Da fiel mein Blick eines Morgens auf die Baumplatte. Der Freund fiel mir ein, der kreativ-handwerklich unterwegs ist, mit dem ich denken und Ideen austauschen konnte. Gesagt – getan. Wir telefonierten, schrieben uns Textnachrichten. Ich erzählte meine Ideen. Er hörte zu. Teilte seine Ideen und Gedanken. Tage später besorgte er Füße, holte die Platte, nahm sich Zeit meine Ideen in die Tat umzusetzen. Und jetzt steht er neben mir: mein Baumtisch. Mein neues Möbelstück mit viel Geschichte. Erinnerungen an Freunde und Orte. Und vielleicht noch mehr?
Ja, der Gedanke der Jahresringe geht mir nach. Ich finde Bäume an sich interessant und schön. Kein Baum gleicht dem anderen. Doch die Jahresringe machen ihn noch interessanter. Die erzählen Geschichten, erzählen von den Spuren und Wetterlagen der Jahre, und sind doch verborgen. Erst, wenn der Baum gefällt ist, kommen die Jahresringe ans Licht.
Manches in uns ist verborgen, kommt nicht ans Licht. Doch in uns – in mir - sind Geschichten, Worte, Texte, die wollen erzählt werden, anderen Mut machen, Impulse setzten. Lebensgeschichten sollen geschrieben werden, gelesen. Auf dem Tisch liegt gerade neben Brille und Teetasse ein Buch mit dem schönen Titel: „Du gehst, du sprichst, du singst, du tanzt.“ Darunter steht „Erinnerungen“ und ein freundlicher Musiker lächelt mich an. Heute kommt alles wundersam zusammen: Die Baumscheibe, der Tisch , die Zeilen der Freundin, die Lektüre des Buches, die Erinnerungen an Templin, die Abendandacht zum Übergang, der Impuls zu schreiben und zu teilen. Die Baumplatte hat ihre Bestimmung gefunden, ist zum Tisch geworden, der mir – und uns – Freude bereitet. Und in mir klingen Worte, finden Resonanz, wollen sich zeigen. Hier und jetzt:
Du lebst.
Du denkst.
Du schreibst.
Sei kreativ.