Kinder gehen auf die Straße und demonstrieren. Zwei Teenager gehen voran. Der eine will berühmt werden, die andere für ihre Werte eintreten.

Ihre Freundschaft steht auf dem Spiel. Die Welt um sie herum beginnt, um sie zu kämpfen. Möglichkeiten werden geboten für Karriere und Beziehungen. Macht wird eingesetzt. Die Zeit rennt. Höher, besser, weiter. Gut gegen Böse. Vertraute Parameter.

Momo. Gestern war ich im Kino und sah mir die neue Verfilmung an. Den Film von 1986 hatte ich als Teenagerin gesehen. Ich erinnere mich auch heute noch an Diskussionen in meinem christlichen Umfeld um den Autor des Buches, Michael Ende. An das Cover seines Buches erinnere ich mich ebenfalls. Sicher mehr als einmal hatte ich es in der Hand, doch weiß ich heute nicht mehr zu sagen, ob ich es wirklich gelesen, und wenn, durchgelesen habe. Oder liebäugelte ich nur mit dem Buch und schaute es mir in Buchhandlungen an? Rang ich damals mit Wollen und Können? War mir als „gute Christin“ das Buch und dies Welt damals erlaubt? Michael Endes unendliche Geschichte bekam ich auf jeden Fall geschenkt und hatte das Lesen bewusst abgebrochen. Das weiß ich noch bis heute und erinnere mich an den Moment dieser Entscheidung. Das Buch war in Farbe gedruckt und das nervte mich damals. Rot und grün, die Komplementärfarben, sollten die Parallelwelten verdeutlichen. Buchstaben wollte ich in schwarz-weiß und so legte ich das Buch zur Seite. Eine Entscheidung. Die Fantasyfilme sah ich dennoch. Zum Zeitvertreib? Aus Interesse? Zur Freude?

Der Film gestern war „dunkel“. So der Kommentar meiner Begleiterin. Das waren alles „reale“ Menschen, so der andere Begleiter. Auch wenn allen klar war, dass wir einen Film sahen, in dem viel geschah, was in der Realität kaum erfahrbar ist, bewegten wir uns immer wieder zwischen den Welten. Die technischen Möglichkeiten zeigten z.B. wie Menschen sich vor unseren Augen in Staub auflösten. Jetzt, als ich das schreibe, wird mir die tiefere Bedeutung nochmal greifbarer. Wie viele Menschen zerfallen vor unseren Augen, weil sie keine Zeit haben?

Die Handlung ist komplex. Zeit ist das große Thema. Doch es geht immer wieder auch um Freundschaft und Liebe, Karriere und Macht. Es geht um Kälte und Wärme, Nähe und Distanz. Zuwendung und Ablehnung. Fantasy auf der einen Seite und doch scheint die Realität näher als uns manchmal lieb ist. Denn in einer zunehmend digitalisierten und optimierten Welt sind die Zeitfresser normaler, als manch einer zugeben mag. Ich selbst saß abends nach dem Film noch länger am PC und recherchierte nicht nur zum Film, sondern auch diese und jene Themen, die mir beruflich nützlich schienen.

Heute Morgen, noch bevor ich in den Tag starte, will ich die „hellen“ und erhellenden Momente des Filmes herausstellen und festhalten, was mich berührte und was nachdenklich nachklingt:

Momo hört zu. Das inspirierte mich zwar gestern gleich wieder nach der gleichnamigen Initiative im Netz zu suchen, die mich seit Jahren anspricht, aber abends suchte ich mir dann das Ohr meines Mannes. Zuhören, eine Kunst, die wir pflegen und pflegen wollen. Das geht nur bewusst, wenn wir die Medien abschalten und uns Zeit nehmen und lassen. Zuhören braucht Zeit.

Im Film wird Momo als Tagträumerin beschrieben. Schon in einer Eingangsszene spielt sie mit Blütenblättern. Die Zeitdiebe stehlen der Welt die Farbe. Eine Erkenntnis, die im Film benannt wird, auch wenn der Glitzer des Erfolgs vorgegaukelt wird. Wie einprägsam ist da das Frühlingserwachen am Ende des Films, wenn der Film endlich wieder Farbe gewinnt. Ein Film von Kälte und Wärme, Winter und Frühling, Erstarren und Aufblühen, könnte ich ihn beschreiben. Ein Film von Schwere und Leichtigkeit, Zerfall und Lebendigkeit. Zeit für Innehalten bleibt jedoch kaum. Die Erkenntnis am Ende im Jetzt zu bleiben, ist im Film kaum gegeben. Die Action bringt einen da eher außer Atem. Die Langsamkeit der Schildkröte scheint kaum Gewicht zu haben. Und auch als Momo in die Zeit eintaucht und verweilt – scheinbar ein Jahr abtaucht, so erfahren wir es in der Handlung – kam es mir als Zuschauerin wie ein Wimpernschlag vor. Gerade war es hell und schön, schon folgt die nächste Dramatik.

Ich komme kaum mit im Film und brauche heute Morgen Zeit zum Schreiben, damit meine Seele Luft hat für die Schönheit des Tages und die Gedanken frei sind zuzuhören. Ohne Rückzug bin ich nicht frei für Begegnungen. Ohne Stille, kein Gespräch. Mein Ohr. Mein Ort. So möchte ich Momo übersetzen und lerne neu beides gilt es zu schützen, dafür einzutreten und den Ort zu verteidigen. Für mich. Für andere. Seelenpflege sagen die einen, Seelsorge die anderen. Zeit für Selbstfürsorge nehme ich mir. Und die darf mich was kosten. Zeit. Manchmal auch Geld. Doch am Ende braucht es die Entscheidung bei mir zu sein, um für andere da zu sein.

Ganz am Anfang geht eine Szene fast unter im Film, die gerne hätte ausgeschmückt werden können. Die Szene gewährt uns Zuschauern einen kleinen Einblick in Momos Lebenswelt, in ihre Höhle, ihren Bretterverschlag am Rande des Amphitheaters. Wie immer man ihren Rückzugsort nennen mag, er strahlt Wärme aus. Ich hole mir heute Morgen das Bild vor Augen, wie Momo liebevoll ihren Schallplattenspieler durchs Zimmer trägt und wie die Nadel sanft die Schallplatte berührt. Eine Momentaufnahme, die den Film hell und berührend für mich macht. Leidenschaftlich. Dieser zarte Ton strahlt und klingt auch heute noch bei all der dramatischen Aktion-Musik für mich durch und nach. Diesen einen Moment aus dem Film will ich mit in den neuen Tag nehmen. Und wer weiß, vielleicht lege ich mir nach getaner Arbeit mit meinem Mann eine Schallplatte auf. Mein Mann begrüßte mich gestern übrigens mit Gitarrenklängen und Gesang und ich hörte ihn, als ich unser Haus betrat. Das berührte mein Herz schon im Flur, als ich aus dem Kino kam und seine Stimme an mein Ohr drang. Das erfreute mich zutiefst. Diese hellen Rückzugsszenen aus dem Film und die sanften Klänge des Abends nehme ich mit in den neuen Tag. Und nach dem Schreiben hat meine Seele jetzt auch Platz für neue Worte und Begegnungen.



19.10.2025 / csb

 

Foto: Genthin am Morgen (privat)