Neulich hatten wir sie noch einmal gehört. Die Neunte von Beethoven. Gestern rezitierte ich noch einmal Schillers Text: „Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Friede weilt.“
„Friede?“ fragt meine Frau irritiert, „wo dein sanfter Flügel weilt.“ Das ist doch Unsinn behaupte ich steif und fest. Immerhin kenne ich die 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven schon sehr viel länger, als meine Frau alt ist. Sie besteht auf „Flügel“, greift sich ein Smartphone, um den Beweis anzutreten. Das habe ich gar nicht nötig. Es ist doch völlig klar. So kenne ich es seit 60 Jahren, ich bin mir absolut sicher. Außerdem … ist die 9. kein Klavierkonzert. Warum sollte da ein Flügel mitspielen. Mehr noch … egal ob Engel oder Eule – „dein sanfter Flügel“ wäre ja singular. Wieso sollte ein gerupfter, verstümmelter Vogel (von mir aus Engel) „Freude“ auslösen und Menschen einen? Nein. Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Friede weilt.
Das einzige, wo ich sprachlich nicht ganz sicher war, heißt es „Friede“ oder „Frieden“. Da könnte mich meine Erinnerung täuschen.
„Flügel“ meinte meine Frau triumphierend und hielt mir das Smartphone vor die Nase. „Quatsch,“ sage ich. „Das hast du gerade reingetippt.“ Also holte sie die Schallplatte, die wir neulich gehört hatten, und auf der der Text ebenfalls abgedruckt war. Auch dort stand es falsch! „Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt.“ Naja, kein Wunder. Das war eine DDR Produktion. Natürlich würden die den Text verfälschen. Vermutlich die Stasi oder die DDR Zensur! Schließlich sprach man in der DDR staatspolitisch korrekt auch von der „Jahresendflügelpuppe“ statt vom Weihnachtsengel. „Flügel…“ das macht einfach keinen Sinn! Das ist doch absurd.
Sollte ich wirklich über 60 Jahre einem Fehler aufgesessen sein? Also echt jetzt! Es macht keinen Sinn, es kann nicht sein. Eine literarisch-musikalische Welt brach für mich zusammen. Ich war fertig. Die ganze Nacht machte ich mich lustig über die aberwitzige Formulierung „wo dein sanfter Flügel weilt.“ Haha, der Schiller. Nein… nein… nein…
In dieser Nacht … habe ich mehr gelernt, als die richtige Liedzeile aus Schillers Ode an die Freude. Und der sanfte Friede bleibt mir hoffentlich trotzdem erhalten. Und dir. Flügel hin, Flügel her. Möge der Friede Gottes Menschen einen, zu Brüdern werden lassen.