Entscheidungen, die mit über 90% Zustimmung getroffen werden, sind suspekt. Sie haben den Beigeschmack von SED Parteitagen.

Gerade bin ich zurück vom Bundesrat des BEFG, quasi die Synode der Baptisten, einer kongregationalistisch organisierten Freikirche mit etwa 71.000 Mitgliedern in Deutschland. Ich war Gast und stiller Beobachter. Und ich war beeindruckt.

Ein Kirchenparlament ist ein komplexes Unterfangen – organisatorisch, technisch, aber auch geistlich. Dies gilt umso mehr, wenn rund 600 Delegierte aus sehr unterschiedlich geprägten Ortsgemeinden eine historische Agenda abzuarbeiten haben. Aufgrund des Mitgliederrückgangs und der parallel schrumpfenden Finanzen hatte sich der Bund der Aufgabe gestellt, über neue, zukunftsfähige Strukturen nachzudenken. Spannung lag in der Luft. Wie würden die angedachten Veränderungen aufgenommen werden? Wie würden die Auseinandersetzungen geführt werden? Welche Kontroversen würden sichtbar werden?

Was mich beeindruckt hat … in Stichworten:

  1. Die Diskussionen verliefen friedlich und geschwisterlich. Trotz deutlicher Unterschiede in den Meinungen und Positionen, waren die meisten Wortmeldungen der Delegierten sowohl zeitlich (90 Sekunden Redezeit) als auch inhaltlich diszipliniert und wohlwollend gegenüber dem Prozess und respektvoll gegenüber der Gemeinschaft der Gläubigen. Dabei wurde nicht um den heißen Brei herumgeredet, sondern Meinungen und Sichtweisen sehr transparent kommuniziert.
  2. Die jeweiligen Tagesleitungen (zwei Frauen, ein Mann) waren erfrischend zurückhaltend mit ihren eigenen Positionen, sachlich, nüchtern, zielstrebig – aber doch freundlich und ermutigend.
  3. Junge Erwachsene waren weit stärker repräsentiert, als vom Altersdurchschnitt der Gemeinden zu erwarten wäre. Auch inhaltlich war die Ausrichtung auf Kinder- und Jugendarbeit innerhalb des Bundes auffallend.
  4. Die Wahl der 35-jährigen Pastorin Natalie Georgi zur neuen Präsidentin des Bundes und der auf das Wahlergebnis folgend Jubel über das Ergebnis, zeugten von Aufbruchstimmung, der langanhaltende Applaus und die stehenden Ovationen für den scheidenden Präsidenten von tiefer Dankbarkeit über die bisherige Führung.
  5. Die Ergebnisse aller Abstimmungen waren eher konsensuell – nicht eine Abstimmung unter 80%, die allermeisten Ergebnisse im Bereich von 97-99%. Das ist angesichts der Vielfalt und der Eigenständigkeit jeder Gemeinde eine echte Überraschung.

Zum letzten Punkt beispielhaft ein Ergebnis, das mich selbst betrifft. Die Aufarbeitungskommission sexualisierte Gewalt, die auf die 2024 beschlossen und jetzt namentlich berufen wurde (darunter auch Claudia und Andreas), erhielt ein Mandat mit 99,24% der abgegebenen Stimmen.  Nach der Abstimmung wurde – noch während der Konferenz – eine für die Arbeit der Kommission notwendig gewordene Änderung der Datenschutzordnung des Bundes vorgelegt und mit 98,89% beschlossen. SED Parteitag? Nein, ganz und gar nicht! Ich nenne es geistliche Einmütigkeit bei großer Vielfalt, jenseits jeglicher Uniformität. Eine beeindruckende Erfahrung.